Adorno meets Bollywood
Ich denke heute laut und versuche Adornos “Resüme über die Kulturindustrie” in Bezug auf die indische kommerzielle Filmindustrie zu lesen. Was würde der Philosoph Adorno sich heute über Bollywood denken?
Der Auslöser für diesen Beitrag…
In der Taz vom 17.4.2002 war ein Artikel zu Mira Nairs Film “Monsoon Wedding” zu lesen, in dem folgendes geschrieben stand:
“Bollywood verkörpert das Paradox einer lokalen Kulturindustrie. Denn ihrem Begriff nach ebenso wie in den Diagnosen der üblichen kulturpessimistischen Anti-McDonaldisten ist die Kulturindustrie etwas, was weltumspannend Lokalkolorit eindampft. Bollywood hat aber alle Kennzeichen einer Kulturindustrie, die man sich eben auch im Plural denken muss, und ist bis zur weitgehenden Exportunfähigkeit lokal: von der voluminösen Marktbeherrschung bis zur flächendeckenden Ideologieproduktion. Zu den Hoffnungen, die man von kritischer Seite mit Filmemachern wie Mira Nair verbindet, gehört sicher die Verbreitung der auch in einigen Szenen (in “Monsoon Wedding”, Anm.) angedeuteten postkolonialen Grundwahrheit, dass es nichts Künstlicheres gibt als die Tradition – und dass die natürlich vor allem ein Produkt des Bollywood-Kinos ist.”(Diedrich Diederichsen)
“Es gibt nichts Künstlicheres als Tradition”
Die Kulturindustrie sei etwas, dass man kritisch ernst nehmen sollte, meinte Adorno. Der Begriff “Kulturindustrie” dürfte zum ersten Mal 1947 in der “Dialektik der Aufklärung” verwendet worden sein. Adorno und Horkheimer ersetzten mit diesem Begriff den der “Massenkultur”, der, wie sie fanden, eher das Gegenteil von dem bezeichnete, was sie beschreiben wollten. Es handelt sich nämlich keineswegs um eine irgendwie spontan aus den Massen aufsteigende Kultur oder “Volkskunst” sondern um die planvolle Herstellung von Waren, die auf den Konsum durch die Massen zurechtgeschnitten sind. Dabei werden immer und immer wieder dieselben Verhaltensmuster eingeübt, die mit dem “wahren Leben” nichts zu tun haben und “schamlos konformistisch” sind. “Hohe” und “niedrige” Kunst wird dabei vereinigt, meint Adorno- und zwar zu ihrer beider Schaden, da die hohe Kunst ihre Ernsthaftigkeit durch die Kommerzialisierung verliert und die niedrige ihre subversives Potential. Das Profitmotiv ist alles was aus Sicht der Kulturindustrie zählt. Der Markt diktiert also die Kunst. Nehmen wir als simples Beispiel die Tanzsprache im Bollywoodfilm heraus, so lässt sich wahrscheinlich schon beobachten, dass hier zunehmend auf diese “hohe” Kunst verzichtet wird, unter anderem vielleicht deshalb, weil sie immer weniger verstanden wird.
In der indischen Filmindustrie ist es gängig, mythologische Bezüge mit poppigen Arrangements zu vermischen. Die “hohe” Kunst lässt sich also durchaus finden: In einem erfolgreichen Masalafilm findet man traditionelle Anlehnungen an die klassische indische Dramentheorie (Natyasastra), die in den Veden verankert ist. Song&Dance Nummern beruhen auf der mythologischen Erzählung von Krishna und Radha, die gemeinsam durch paradiesische Landschaften tanzen und dabei das “Leela” bzw “Krida” vollführen, also ein sinnliches Liebespiel (Leela) mit fröhlichem Tanz und Herumgehüpfe (Krida). Mythologische Namen und Erzählstrukturen tauchen ausserdem immer wieder auf und werden von einem indischen Publikum auch weithin verstanden. Im Zusammenhang mit kommerziellen Überlegungen wird die “hohe Kunst” jedoch irgendwo ausgemittelt und vermischt sich mit populären westlichen Einflüssen, wie etwa Montagen, Effekten usw. usf. Was herauskommt ist eine Popkultur, die sich gemäß den Erwartungshaltungen oftmals selbst zensiert. Gewaltdarstellungen sind dabei (ironischerweise) in Ordnung, Kuss-oder Liebesszenen jedoch nicht.
Adorno meinte die Kulturindustrie erzeugt das Massenpublikum und verneint dabei konsequent, dass es auch die Masse ist, die durch ihre Erwartungshaltungen und ihr Konsumverhalten die Kulturindustrie erst hervorbingt. Die Trennung von Rezipient und Produzent ist heute an sich schon schwierig geworden. Die Kulturindustrie -und so auch Bollywood- ist wahrscheinlich als Gesamtes etwas, das in einem komplexen Kommunikationsprozess ausgehandelt wird. In dem heterogenen Produktionsystem Bollywood scheint zudem viel experimentiert zu werden, wie auch die große Anzahl an Flops zeigt, die hier jährlich produziert werden.
Das passive Publikum?
Grob gesagt war Adornos Sichtweise eine, die die Kulturindustrie als Täter und die Masse als Opfer darstellt. Diese Sichtweise macht insbesondere dann Sinn, wenn man bedenkt, wann er diese Gedanken hatte und welche Beobachtungen er zwischen den 40er und den 60er Jahren hat machen können (zb. die McCarthy-Aerea).
Hätte er nach Indien geschaut, hätte er seine Gedanken vermutlich erneut bestätigt gesehen. In den 40ern wandelte sich die Struktur der Filmindustrie- und zwar ausgelöst duch die zunehmende Industrialisierung und die aufkommene Rüstungsindustrie. Dorfbewohner und Bauern kamen in die Städte um in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Fern ihrer Heimat flüchteten sie im Kino in eine Traumwelt um den Konflikten des modernen Lebens zu entkommen. Im Kino wurden ihre Bedürfnisse nach unterhaltsamen und traditionellen Themen befriedigt. Dass diese Arbeiter einen Nutzen aus den Filmen ziehen, hätte Adorno aber stark bezweifelt. Das System der Kulturindustrie umstellt die Massen und verhindert die Bildung autonomer und sich bewusst entscheidender Individuen, schreibt Adorno. So gesehen ist das Kino ein Katalysator, dass dazubeiträgt, dass das “System” überhaupt funktioniert.
Filme spielen eine entscheidende Rolle im “Seelenhaushalt der Massen”, meint auch Adorno. In Indien hat Kunst eine spirtuelle Bedeutung, es geht theoretisch auch um die Übertragung einer göttlichen Aura (Dharshana/Frontality). Das Theater ist als Kunstform in den Veden verankert und wurde von Brahma zur Erbauung des einfachen Volkes eingeführt (das aus Gründen der Kastenzugehörigkeit und der Erziehung, seiner Stellung etc. von der Erleuchtung durch die heiligen Schriften ausgeschlossen ist). Beim Betachten eines Films sind wir uns darüber im Klaren, dass die Gefühle von dem fiktionalen Spektakel ausgelöst werden. Wir sind uns der Realität unserer Gefühle bewusst, obwohl sie sich uns auch entziehen. Einen Film zu betrachten versetzt uns demnach in einen medidativen Zustand- ein Gefühl erhabenen Friedens, so ähnlich wie ihn Gurus durch gebet oder Yoga zu erreichen suchen. Kurz gesagt: Das Kino in Indien verbindet Tradition und Moderne, es mythologisiert die Gegenwart, es zeigt immerdasselbe auf immer verschiedene Weisen und es dirigiert ganz offen die Gefühle (man wird also nicht ‘unmerklich’ manipuliert, so wie das im Hollywoodkino viel eher der Fall wäre – sprich: das indische Kino manipuliert viel mehr frontal). Das Kino spiegelt unserere Sehnsucht nach einer besseren Welt. In Krisenzeiten (z.B: Ayodhya-Konflikt) tauchen z.B. mehr Rama-Figuren im indischen Kino auf. Indien ist seit den Anfängen des Kinos kinobegeistert. Ist es aber automatisch “Opium fürs Volk”?
Der Theoretiker Arjun Appadurai würde dem aus heutiger Sicht zum Beispiel widersprechen. Er meint die Medien zeigen uns eine größere Zahl an “möglichen Leben” (Lebensentwürfe) als je zuvor- und Filme dienen keineswegs nur dem Eskapismus sondern verlangen nach Aktion (z.B.: Imagination führt zur Migration). Medien können zur Bildung “mächtiger Solidaritäten” und (virtueller oder realer) Nachbarschaften beitragen.
Heute ist außerdem nicht nur das mediale Angebot viel größer sondern viele AnthropologInnen und KommunikationswissenschaftlerInnen sind sich zudem auch bewusst, dass es mehrere Lesearten gibt. Ein kultureller Text (ein Film, ein Musikstück, etc.) kann nicht nur innerhalb des dominanten Codes, also den den er vorgibt, gelesen werden, sondern der Code kann auch ausgehandelt werden oder aus oppositioneller Haltung heraus gelesen werden. Adorno hat diese Vorstellung eines passiven Publikums, dass sich mit den Gratifikationen, die ihnen z.B. über das Fernsehen geboten werden, begnügt. Das Publikum will dabei sogar betrogen werden. Und es will sogar einen Betrug, den es selbst durchschaut. Die Menschen, so Adorno, meinen ihr Leben werde unerträglich, wenn sie sich nicht länger an “die Befriedigungen klammern, die gar keine sind”. Es wäre wahrscheinlich interessant zu sehen, wie Adorno diesen Gedanken einem indischen Strassenkind erklärt, dass sich nichts mehr wünscht als einmal ins Kino zu gehen. Die Kulturindustrie gaukelt echtes Leben vor, meint er, und hämmert dabei unablässig Ordnungsbegriffe und Verhaltensmuster ein. Die verwesende “Aura” der starren Tradition wird quasi konserviert.
Tradition aus der Konserve
Denken wir den letzten Gedanken in Zusammenhang mit Bollywood, wird es für Bollywoodfans jetzt schmerzhaft. Kaum jemand wird bestreiten können, dass der indische kommerzielle Film Verhaltensmuster und Traditionen unablässig darstellt. Aber die Traditionen werden auch diskutiert. In der indischen Sprache gibt es tatsächlich zwei verschiedene Begriffe für Tradition: “Satatya” bezeichnet das Bleibende und stets Vorrätige in einer Kultur, “Parampara” bezeichnet die dynamische Weitergabe von Tradition – und auch deren Veränderung. Dementsprechend gibt es auch verschiedene Codierungen innerhalb der Filme. Erfolgreich waren in den letzten Jahren scheinbar insbesonders Bollywoodfilme die den Konflikt zwischen Tradition und Moderne verhandeln- angefangen mit “Dilwale Dulhania Le Jayenge” in den 90ern, wenn man so will. Vielleicht wäre es also interessant die Codierungen von “satatya” und “parampara” zu analysieren…
Hinzu kommen die zahlreichen Decodierungspositionen, die man in Bezug auf einen Bollywoodfilm heute haben kann. Da sind nicht nur die regionalen indischen Publika sondern die Auslandsinder der ersten, zweiten, dritten.. Generation, die ausländischen und westlichen Fans, die Pakistani und Muslime, die Türken, Russen, Araber, Afrikaner usw. usf.
Die Filme treffen auf ein disperses Publikum mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen. Menschen scheinen ausserdem immer mehr zu reisen und Vermischungsprozesse aller Art finden statt. Filmemacher tragen dabei zur Bildung transnationaler Öffentlichkeiten bei. Die Zuseher werden (laut Sicht der Cultural Studies) dabei zu Schnittstellen öffentlicher Diskurse. Indische Jugendliche der zweiten Generation, die etwa in Southhall in London aufwachsen nehmen den kulturellen Text eines Bollywoodfilms nicht unreflektiert hin, sondern vergleichen ihn mit anderen medialen Angeboten und diskutieren die verschiedenen Normen und Werte. Dabei werden sie mitunter auch zu Dolmetschern für die ältere Generation. Wir haben es also mit multiplen Identiäten zu tun, mit Wanderen zwischen den Welten und mit mulitkulturellen Praktiken.
Adorno meinte Anpassung tritt anstellt von Bewusstsein, die Kulturindustrie führe zu einer Anti-Aufklärung und verhindere Emanzipation. “Das Einverständniss, dass sie propagiert, verstärkt blinde, unerhellte Autorität.” Das mag auch in Bezug auf Bollywood nach wie vor stimmen, wo die “saubere” Darstellung von Kultur und Tradition mit großem Publikumszuspruch belohnt wird. Man denke nur an die Aufstände die kontroversielle FilmemacherInnen in Indien hervorgerufen haben (z.B.: “Fire”, “Water”, “Monsoon Wedding”, “Jo Bole So Nihaal” oder “Girlfriend”).
Aber dennoch gibt es auch Gegenbeispiele, in denen sich zeigt, dass der Film auch revolutionäre Kraft hat. Die Buslinie “Veer-Zaara” etwa, die 2005 zwischen Delhi und Lahore nach dem gleichnamigen Film eingerichtet wurde. Oder die Jugendbewegungen, die sich aufgrund von “Rang de Basanti” nun gegen die Korruption stark machen und friedliche Demonstrationen veranstalten. “Munnabhai” schaffte es mit viel Humor Gandhis Philosophie in breitem Maße im indischen Alltag wieder zu beleben.
Massenmedien – ein verharmlosender Begriff
Adornos “Resüme über die Kulturindustrie” ist aus vielen Grüden eine veraltete Sichtweise, die nur die negativen Seiten und Wirkungen der Massenmedien sieht und die kreative Nutzung der kulturellen Texte ausschließt. Den Begriff “Massenmedien” lehnt er übrigens ab, da er die Sache verhamlost. Es geht nicht um die Techniken der Kommunikation, sondern den Geist, “der ihnen eingeblasen wird”. Den Medienmachern widmet sich Adorno in seinem Resüme aber sonst kaum. Wenn er schreibt “Anpassung tritt anstelle von Bewusstsein” meint er das Publikum, aber der Satz stimmt doch auch für die Produzenten, Journalisten und Filmemacher ebenso, wenn nicht sogar stärker, oder nicht?
Besieht man sich das Produktionsystem und das Starsystem Bollywoods kann einem allerdings schon ein kulturpessimistisches Grausen in einem Sinne Adornos überfallen. Er schreibt: “Je entmenschlichter ihr Betrieb und ihr Gehalt, um so emsiger und erfolgreicher propagiert sie angeblich große Persönlichkeiten und operiert mit Herztönen.”
Ich schließe meine Betrachtung mit der kontroversen Überlegung, dass kein indisches Strassenkind sich das Kinogeld vom Mund absparen sollte um sich etwa “Jaan-E-Mann” anzusehen, einen aktuellen Bollywoodfilm, in dem man sieht wieviel Spaß es den gut bezahlten Schauspielern machen kann, mit grobem Unfug fette Kohle zu verdienen. (Das wäre glaub ich im Sinne Adornos).
Das es sich bei der Kulturindustrie tatsächlich um eine Industrie handelt, die laut Adorno ja auch ohne das Wort Kultur genannt werden müsste, zeigte sich aktuellerweise an einer Studie des UCLA, die berechnete das Hollywood rund 126.000 Tonnen Luftschadstoffe produziert und damit als zweitschlimmster Umweltsünder gleich hinter den Erdölraffinerien und vor der Flugzeugindustrie steht. Wäre interessant zu wissen wie schlimm es in Bollywood ist und mit welchem Aufwand hier die “flächendeckende Ideologieproduktion” eigentlich stattfindet…
Was ist eure Meinung zur “Kulturindustrie”?
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Dieser Beitrag wurde von Birgit Pestal am 16 Nov ’06 in leicht abgewandelter Form erstveröffentlicht:
http://masala.viennablog.at/2006/11/16/adorno-meets-bollywood
Kategorie: mediasphere, Mensch