Die gefühlte Globalisierung
Kurier_”Die gefühlte Globalisierung”_interview_3.9.08 (PDF)
Irgendwann rief irgendjemand einen Trend aus. Und plötzlich war Bollywood in. „Ohne fundiertes Zahlenmaterial“, kritisiert die Kultur-Anthropologin Birgit Pestal. Und hinterfragte den „Trend“ anhand von Online-Umfragen, Reichweiten, Einschaltquoten,Verkaufszahlen und Kinoticket-Verkauf.
Heute kann sie aufgrund ihrer Grundlagenforschung (ja, auch das ist Grundlagenforschung) sagen: „Bollywood ist in Europa ein bemerkenswertes Lifestyle- und Modephänomen.“ Daher stört sie auch die verunglimpfende Berichterstattung. „Für einige Filmkritiker ist Bollywood ein Gräuel, was damit zusammenhängt, dass die fremde Erzählweise nicht in ihrer Eigenständigkeit respektiert wird.“ Dabei sei es spannend, wenn ein von Hollywood geprägtes europäisches Publikum plötzlich diese ganz andere Ästhetik und Erzählweise zulässt und das auch erwünscht ist.
KURIER: Warum funktionieren diese Filme überall auf der Welt? Sind es die Farben? Die Dramaturgie? Anthropologische Gesetze, die tief im Menschenwurzeln?
Pestal: Ich glaube, Bollywood-Filme sind ansprechend für ein Publikum, das sich für die Entbehrungen des Lebens entschädigen lassen möchte. Einfach formuliert: „Bollywood macht glücklich.“ Ich habe mich in meiner Forschung auf das deutschsprachige Publikum konzentriert und weiß, dass die Fans Farben, Musik, Kostüme und Ausstattung besonders anziehend finden. Gleichzeitig betonen sie, dass sie über die Filme Einblicke in die fremde Kultur und die Mythologien und Traditionen bekommen. Ein besonderes Kriterium scheint zudem das „Neue“ zu sein. Bollywood-Filme sind für ein Hollywood-geprägtes Publikum erfrischend anders. Gleichzeitig realisieren viele, dass es neben Hollywood noch andere Film-Industrien gibt, die weltweit markttragend sind. „Bollywood ist die größte Filmindustrie der Welt“ – das ist eine irrsinnige Erkenntnis, wenn man es das erste Mal hört. Einen indischen Film anzusehen, ist vielleicht auch eine Art von gefühlterGlobalisierung.
KURIER: Indische Filme werden aber trotzdem für ein indisches Publikum gemacht?
Pestal: Es gibt kulturelle Codes, mythologische Anspielungen, die für Außenstehende mitunter befremdlich sein können. Das Geheimnis könnte sein: Das Erlernen dieser Codes macht einfach Spaß. Je mehr Filme man sieht, desto fitter wird man. Ich glaube, erst wenn man als Zuseher Mythologie und Gesten sowie die Rollen der Stars versteht, entfalten indische Filme ihre volle Kraft.
KURIER: Die Handlungen reichen tief in die Sanskrit-Dramaturgie zurück.
Pestal: Die großen indischen Epen (Mahabharata und Ramayana), wie auch die indische Dramaturgie (Natyasastra), das Parsi-Theater und Traditionen in Gesang und Tanz sind zentrale Elemente im indischen Film. Handlungsstränge oder Namen aus den großen Epen werden in manchen Filmen zitiert. Wenn ich diese Geschichten kenne, kann ich mir ausmalen, wie die Geschichte weiter geht oder inwieweit er von der mythologischen Vorlage abweichen wird.
Indische klassische Dramaturgie unterscheidet sich von unserer Vorstellung eines klassischen Spannungsbogens (Aristoteles). Vor gut 2000 Jahren schrieb ein weiser Mann namens Bharata eine Abhandlung über die Schauspielkunst (Natyasastra). Das Ziel der Dramaturgie ist dabei eine höhere, emotionale Einsicht. Um dies zu erreichen, spielen Empfindungen eine riesige Rolle, die als „Rasas“ (Grundstimmungen) bezeichnet werden: Liebe, Heldentum, Ekel, Komik, Schrecken, Wundersames, Wut, Pathos (Kummer) und Friedvolles. Es heißt: Wie bei einem guten Curry muss auch beim Film die Mischung der verschiedenen „Masala“ stimmen, damit der Film beim Publikum ankommt. Daher auch die Bezeichnung Masala-Filme.
KURIER: Haben die Bollywood-Filme etwas mit der indischen Realität zu tun?
Pestal: Die gängige Antwort ist heutzutage wohl nein, eher nicht. Viele Filme sind so konzipiert, dass sie einen Rückzug aus eben dieser Realität erlauben. Es gibt etwa 1,1 Milliarden Inder, rund ein Viertel davon lebt von weniger als einem Dollar pro Tag. Das Geld für Kinotickets wird vielerorts vom Mund abgespart. Umgekehrt spielt ein guter Teil der Filme in einer Welt der Superreichen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich zahlreiche Bezüge zur Realität und zur Kultur, etwa zum inoffiziellen Kastenwesen. Indien durchlebt eine enorme Beschleunigung auf so vielen Ebenen. Die Mittelklasse wächst rasant, es entstehen Konflikte zwischen Tradition und Moderne. In vielen Filmen wird das thematisiert und reflektiert – beispielsweise, wenn es in einem Film um arrangierte Ehen geht.
Auffällig bei meiner Online-Umfrage war übrigens, dass Fans ein deutliches Interesse an Kultur und Hintergründen vorweisen. Sie interessieren sich durchschnittlich mehr für Dokumentationen als für Talkshows oder Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen.
Interview:
Susanne Mauthner-Weber
Kategorie: Birgits Publikationen, Bollywood